Taufberufung als Referenzgröße der Kirchenentwicklung
Neue Perspektiven auf kirchliches Ehrenamt und christliche Identität unter Bezug auf die Idee der Berufung
Kurzdiagnose
Ohne Frage durchleben die kirchlichen Organisationseinheiten derzeit die Schwierigkeit, das über Jahrhunderte gewohnte System pastoraler Versorgung der Gläubigen durch Priester verändern zu müssen. Weder gibt es für dieses personalintensive System genug Priester noch erscheint das dahinterstehende Versorgungsdenken modernen Bürgerinnen und Bürger als kompatibel mit ihren allgemeinen Emanzipations- und Selbstbestimmungsansprüchen. Theologisch und pastoralplanerisch rücken daher neue und in der Vergangenheit eher unterbelichtete Ressourcen des Christseins in den Blick. Hierzu gehört auf jeden Fall die Neuentdeckung der Taufe wie des in der Taufe gründenden sogenannten „Gemeinsamen Priestertums“. Die Kirche der Zukunft, so die Überzeugung, atmet kraftvoll mit zwei Lungenflügeln: dem Weihepriestertum und der Taufe.
Kooperationspartner: Erzbistum Paderborn Laufzeit: Januar 2014 – Oktober 2019
Projektbeschreibung
Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung des Projekts war eine Interviewstudie mit unterschiedlichen Ehrenamtlichen, die die Motive für Ehrenamt thematisierte. Durch die Interviews zeigte sich, dass die Ehrenamtlichen ihr Engagement nicht mit kirchlichen Begriffen wie Berufung deuten. Die Befragten lehnten eine aufgesetzte Deutung ihres Engagements entschieden ab. Es zeigte sich viel mehr, dass die Befragten durch das Gespräch über ihr Ehrenamt sich erst Gedanken machten über die persönliche Deutung und Motivation ihres Engagements.
Im weiteren Projektverlauf wurde ein Tool entwickelt, welches es ermöglichen soll, über seine Talente und das eigene Engagement ins Gespräch zu kommen: die FRISCHZELLE. Methodisch basiert dieses Tool auf Kenntnissen aktueller Potenzialforschung (Talentkompass NRW) sowie der unternehmerischen Entscheidungslogik Effectuation, welche bewusst Entscheidungen nicht von Zielen her denkt, sondern bei den Mitteln jedes Einzelnen anfängt, was sich sehr gut auf ehrenamtliches Engagement beziehen lässt. Im Erzbistum Paderborn wurden in mehreren Multiplikatorenschulungen Potenzialcoaches ausgebildet, die im gesamten Bistum mit unterschiedlichen Personen auf persönliche Talentsuche gehen.
Ein weiterer Meilenstein im Projekt war die Erweiterung der theologischen Deutung. Diese wurde mit dem Konzept des „elementaren Lebensglaubens“ von Christoph Theobald erarbeitet. Derzeit wird die Wirksamkeit der Methode evaluiert.
Didaktischer Kühlschrank, Frischzellekarten sowie Poster können direkt am zap bei Matthias Kuchnowski (matthias.kuchnowski@rub.de) oder im Sekretariat (manja.kleffmann@rub.de) bestellt werden.
Learnings
Es ist offenbar äußerst ratsam, Leitbegriffe der eigenen Programmatik vorher im Feld zu testen. Für Definitionszentralen scheinbar selbstverständliche Ausdrücke können bei den adressierten Zielgruppen missverständlich sein. Neben Berufung wären hier auch andere kirchliche Begriffe denkbar (zB der Begriff Charisma oder Volk Gottes).
Dass der Begriff Taufberufung paradoxerweise außerkirchlich mobilisierender ist als innerkirchlich, lässt die Vermutung aufkommen, dass wir im innergemeindlichen Zirkel pathetische und geistliche Sprache verlernt und verschlissen haben.
Zugleich stellt sich natürlich die Frage, ob das Bistum auf die Begriffe Taufbewusstsein und Charisma zukünftig verzichten möchte. Dies ist angesichts der existentiellen Bedeutung der Taufe für die Kirche keine Option. Daraus ergibt sich wohl, dass das Erzbistum Paderborn (und wohl nicht nur Paderborn) dringend eine Erneuerung der Taufpastoral bedarf bzw. entsprechende Maßnahmen zu verstärken sind.
Eine ganz wichtige Erkenntnis der Interviewstudie war es, dass das generelle Angebot einer Deutung von Lebensleistung als genuin kirchliche Dienstleistung identifiziert und auch gewürdigt wurde.
Im Projekt wurde nach den Erfahrungen der Interviewstudie die Herausforderung angenommen, sich und das eigene Anliegen in säkulare Plausibilität zu übersetzen. Dabei wurde deutlich, dass sich das theologische Anliegen der Berufungs- und Charismenorientierung gut verbinden lässt mit Denkweisen der Wirtschaftswissenschaft (‚Effectuation‘) sowie mit der aus der kommunalpolitischen Partizipationsforschung (‚Talentkompass‘).
Über die Kompetenz des Potenzialcoachings kann die Sendung der Kirche wie in einem Brennglas neu und attraktiv versprachlicht und verstanden werden. Kirche will Raum schaffen und Raum sein für die Potenziale der Leute. Sie will sich von diesen Potenzialen her neu verstehen und sogar organisieren. Sie will die Potenziale befreien (diakonia), feiern, dass sie wirken (leiturgia) und sozial ausrichten (koinonia). Und sie hat verstanden, dass Potenziale von Deutungen her dynamisiert werden und konstruktive Deutungen brauchen (martyria).
Das Anliegen der Potenzialentdeckung,- entfaltung und -steigerung ist wie eine Synthese über viele pastorale Berufe und kann vielleicht sogar das Wesentliche des kirchlichen Dienstes als solchen beschreiben: Jugendpastoral, Berufungspastoral, aber auch Exerzitienarbeit, Sozialarbeit, Freiwilligendienste oder Katechese, Caritas und Gemeindepastoral. So gesehen, wäre ein neu entdecktes, theologisch begründetes und professionell gelerntes Potenzialcoaching eine wichtige Präzisierung für die Aus-, Fort- und Weiterbildung in pastoralen Berufen und Rollen.
Deutlich erkennbar ist, dass bislang einzelne Seelsorgerinnen und Seelsorger die Frischzelle in unterschiedlichen Arbeitsfeldern anwenden. Das, was bislang fehlt, ist der Blick auf eine mögliche strategische Ausrichtung. Was passiert, wenn in einem Raum über mehrere Jahre konsequent(er) auf Tauberufung und Potentialfindung geachtet wird, bspw. in der Jugendarbeit oder im Umgang mit Ehrenamtlern?
Wichtig ist zudem, dass es nicht um den Einsatz der Frischzelle als „richtiger“ Methode geht, sondern um einen kirchlichen und pastoralen Perspektivwechsel, zu dem die Frischzelle beitragen kann, der aber natürlich auch noch aus anderen Impulsen heraus ent- und bestehen muss.
Eine besondere Herausforderung ist die Ausformulierung explizit religiöser Lebensdeutungen. Hier herrscht eine gewisse Sprachlosigkeit – vielleicht dieselbe, die auch in der Interviewstudie offenbar wurde. Die letzten Monate haben gezeigt, dass die Frischzelle in ihrer „säkularen“ Logik verstanden wird und meistens auch auf eine positive Resonanz stößt. Das, was den kirchlich und den wissenschaftlich Verantwortlichen erkennbar schwerfällt, ist, die religiöse Deutung ins Spiel zu bringen. Die Furcht vor einer religiösen Vereinnahmung ist recht ausgeprägt. Die „neue Sprache“, die sogar unreligiös sein kann, um religiöse Kraft zu haben (Bonhoeffer), ist noch nicht gefunden. Umgekehrt sind die Reaktionen auf die anthropologisch geweitete Theologie eines ‚elementaren Lebensglaubens‘ (Christoph Theobald) bislang positiv ausgefallen. Hier gilt es, sowohl theologisch wie didaktisch wie spirituell weiterzukommen.