Analyse von Innovations- und Blockadewahrscheinlichkeiten bei kirchlichen Reformprozessen.
Das Forschungsprojekt nimmt das kirchliche Leben jenseits der festgefügten Gemeindestrukturen in den Blick. Gerade im Laufe der neueren Kirchengeschichte haben sich viele Sozialformen christlichen Lebens entwickelt und sind nach der eindrucksvollen Erfolgsgeschichte der klassischen „Gemeinde“ ab den 1950er Jahren neu in den Blick gerückt. Durch die vielen diözesanen Strukturreformen, die den Eindruck von sich verändernden Standards religiösen Lebens prägen, hat sich herausgestellt, dass die Pfarrei als administrative und auch diakonische Figur erheblich weiter zu denken ist als in ihrer faktischen Gleichsetzung mit „Gemeinde“. Es zeigen sich neue Orte, Formen, Praxen und Gelegenheiten als Communio-Formen des Christseins. Theologisch ist wichtig zu bemerken, dass keine dieser Formen pastoralen Vorrang beanspruchen darf. Alle Sozialformen müssen sich daran messen lassen, ob und wie sie in der Lage sind, die kirchliche Sendung authentisch und relevant zu kommunizieren und antreffbar zu machen.
Kooperationspartner: Erzbistum Berlin
Laufzeit: Oktober 2016 – September 2020
Es ist unverkennbar, dass die territorial verfasste Ortsgemeinde eine starke Milieuverengung aufweist. Sie mobilisiert nur noch einen geringen Teil der Bevölkerung, nämlich diejenigen, die stark am Nahbereich orientiert sind und dort Gemeinschaft suchen. Außerdem ist sie stark liturgisch definiert, hier vor allem in der Form einer eucharistisch fokussierten Monokultur. Ihre Identität liegt in einem Zuschnitt als Pfarrfamilie, was aber mit nur wenig Attraktion in andere Lebenswelten kommunizierbar ist. Leider legt sich die Vermutung nahe, dass substanzielle Innovationserwartungen weniger bei „Pfarrei“ und „Gemeinden“, denn bei „Orten kirchlichen Lebens“ zu erwarten sind. „Orte kirchlichen Lebens“ bieten eine alternative Form kirchlicher Organisation und gemeindlichen Lebens an. Diese lohnt es sich zu untersuchen.
Ziel des Projektes ist die Erforschung und Identifikation von Innovations- und Blockademustern in der Geschichte ausgewählter Orte kirchlichen Lebens. Entsprechend einer Ekklesiologie der Grundvollzüge sind als Untersuchungsfeld dabei drei Orte kirchlichen Lebens ausgewählt worden, die einen diakonischen, liturgischen oder verkündenden Schwerpunkt haben.
Im Laufe des ersten Projektjahres wurden alle drei Projektorte sorgfältig mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung untersucht, um einen möglichst umfassenden Blick auf den Ort kirchlichen Lebens zu erhalten. Außerdem wurden die Akteure vor Ort zu ihren Haupttätigkeiten interviewt: In St. Wilhelm berichteten die ehrenamtlich Engagierten über ihre Arbeit und ihre Aufgaben beim Einsammeln der Lebensmittel und während der Essensausgabe; in der Schule gaben die Schülerinnen und Schüler Auskunft darüber, warum der Religionsunterricht für sie besonders ist und was sie an ihrer Religionslehrerin schätzen. In St. Ludwig gewährten die vier Patres Einblick in die Herausforderungen und Schwierigkeiten der Organisation des liturgischen und pfarreilichen Lebens. Zudem fand im Mai 2019 eine groß angelegte Befragung aller Gottesdienstbesucherinnen und Gottesdienstbesucher statt, woran sich 471 Personen beteiligten. Die Befragten gaben Auskunft darüber, was sie am liturgischen Leben in St. Ludwig schätzen und warum für sie St. Ludwig als Gottesdienststandort attraktiv ist.
Auf diese Weise konnten zentrale Erkenntnis in Bezug auf die pastoraltheologischen Innovations- und Blockademuster erkannt werden, die vor Ort das pastorale Handeln prägen.
Im nächsten Schritt werden die Untersuchungen an den drei Projektorten ausgewertet und auf mögliche Erfolgsfaktoren untersucht, die auf andere Orte kirchlichen Lebens im Erzbistum Berlin übertragbar sind.
Mit dem Blick auf die operativen Ziele des Projektes ist festzuhalten, dass die Identifikation von innovativen und blockierenden Handlungsmuster in der Organisation- und Arbeitsweise von Orten kirchlichen Lebens im Erzbistum Berlin gelungen ist. Es konnten sowohl neue Erkenntnisse im Bereich von Blockaden und Spannungen als auch im Bereich von Innovation und Erfolg gewonnen werden.
Die wissenschaftliche Begleitforschung kann außerdem feststellen, dass das Projekt in der Weise einen wahren Lerneffekt (auch für das gesamte Erzbistum Berlin) hatte, da es bis dato „blinde“ Flecken und Spannungsfelder im Kontext des Verhältnisses von Orten kirchlichen Lebens und Pastoralen Räumen aufgedeckt und bearbeitbar gemacht hat:
Selbstverständnis vs. externer Zuschreibung
Die Frage nach dem Selbstverständnis eines Ortes kirchlichen Lebens ist während der Projektlaufzeit besonders im Bereich Diakonie wichtig geworden: Was passiert, wenn das Selbstverständnis sich nicht mit einer „externen“ Zuschreibung durch das Erzbistum vereinbaren lässt?
L&S organisiert sich bis auf die Inanspruchnahme der kirchlichen Räume der Pfarrei St. Wilhelm vollständig eigenständig und autark. Eine Einflussnahme oder stärkere Mitbestimmung der Pfarrei wird vermieden sowie auf explizite religiöse Angebote und Formen verzichtet . Wenn sich die Engagierten selbst nicht als Ort kirchlichen Lebens verstehen, darf dann trotzdem behauptet werden: „Aber das was ihr macht ist doch christlich! Und wir nennen euch trotzdem nach unserem Verständnis „einen Ort kirchlichen Lebens“.“?
Klärung des Zu- und Miteinanders von Pastoralem Raum und Ort kirchlichen Lebens
Zudem ist das Verhältnis von Pastoraler Raum zu den Orten kirchlichen Lebens in Zukunft stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Hier ergeben sich eine Reihe von wichtigen Fragestellungen, die einer Klärung bedürfen:
Vor allem die letzte Frage zu dem direkten Verhältnis von „Ort kirchlichen Lebens“ und Pfarrei ist sehr wichtig: Es wäre auch denkbar, dass sich Pfarreien in Zukunft als „Dienstleister“ an dem Auftrag der Orte kirchlichen Lebens begreifen: Was können wir als Pfarrei/Gemeinde für euch als Ort kirchlichen Lebens tun? Wie können wir Ermöglicher eurer Pastoralen Arbeit sein? Denn die Idee, einen Partner (hier: den Ort kirchlichen Lebens) durch die Bereitstellung von Räumen und finanziellen Mitteln in einem mit einer christlichen Grundhaltung zu vereinbarenden Vorhaben zu unterstützen, ist lohnend. Derartige Kooperationen eröffnen Kirche die Möglichkeit, in verschiedenen bürgerschaftlich relevanten Feldern aktiv zu sein und eine wesentliche Rolle zu spielen. Das dafür notwendige Engagement könnte sie, durch den Mangel an Kompetenzen und ehrenamtlich Engagierten, aus eigener Kraft nur sehr schwer alleine stemmen. Denn ohne Zweifel gehen die Zahlen an ehrenamtlich engagierten Menschen im kirchlichen Kernbereich zurück. Es ist zu diskutieren, ob Kirche, anstatt aktiv Handelnde zu sein, eine Rolle einnehmen sollte, Partnern in ihren Vorhaben mit finanziellen und organisatorisch unterstützenden Mitteln zur Seite zu stehen und auf diese Weise relevanter Player im Sozialraum zu bleiben.
Abschließens sollte eine Klärung in zwei Punkten erfolgen: Zum einen in dem Punkt, ob und wenn in welcher Weise die Pastoral des Ortes kirchlichen Lebens eine missionarische Dimension beinhalten soll; zum anderen nach welchen Kriterien ein Ort kirchlichen Lebens als „erfolgreich und innovativ“ gelten kann. Es ist zu wenig, dies mit dem Argument einer hohen Besucher- oder Teilnehmerzahl zu begründen.