Erarbeitung eines Curriculums und eines Akademieprogramms für die Führungskräfteentwicklung der ersten Ebene im deutschen Katholizismus
Die Skandale der jüngeren Vergangenheit (Missbrauch, Umgang mit Finanzen) haben dem Ansehen der katholischen Kirche massiv geschadet und Defizite in der Führungskultur der Kirche offengelegt. Diese Defizite bestehen insbesondere in den Bereichen Steuerung, Kontrolle und Feedbackkultur. Die Kirche und kirchennahe Einrichtungen stehen jedoch nicht nur wegen der Skandale unter Druck. Demografischer Wandel, hohe Kirchenaustrittszahlen, fehlender Priesternachwuchs, Fusionen von Gemeinden und Einrichtungen sowie finanzielle Engpässe stellen das Management von kirchlichen Organisationen vor besondere Herausforderungen. Aus diesem Grund entschlossen sich die Leitung des zap und dessen Förderer, das Führungsthema in einem eigenen Projekt zu fokussieren und und die Arbeitsstelle für kirchliche Führungsforschung (AkF) zu gründen. In der Auftragsklärungsphase wurden die sich in den Kooperationsprojekten des zap zeigenden Herausforderungen an Führung in zwei weiterführenden Kernfragen fokussier und in einem Projekt operationalisiert:
Laufzeit: März 2015 – Februar 2018
Projektleitung: Dr. Benedikt Jürgens, Dipl. Theol.
Der Arbeit der AkF orientierte sich am Programm einer angewandten Pastoralforschung zugrunde, das vom amerikanischen Pragmatismus, insbesondere von Charles Sanders Peirce (1839–1914), inspiriert ist, dessen pastoraltheologische Anschlussfähigkeit von Matthias Sellmann dargelegt und begründet wurde und in den Kooperationsprojekten des zap kontinuierlich erprobt und weiterentwickelt wird (Sellmann, Matthias 2015. Pastoraltheologie als „Angewandte Pastoralforschung“. Thesen zur Wissenschaftstheorie der Praktischen Theologie. In: PThI 35, 105-116).
In einem ersten Schritt der Praxisrecherche wurden zunächst das kirchliche und säkulare Umfeld wahrgenommen: Welche Angebote gibt es bereits in der Führungskräfteentwicklung? Welche Zielgruppen werden angesprochen? Welche Formate gibt es? Welche Philosophien liegen diesen Angeboten zugrunde? Gibt es Unterschiede zwischen kirchlicher und säkularer Praxis? Was kann man von den bereits existierenden Angeboten und ihren Anbietern lernen? Darüber hinaus ist es notwendig, möglichst genau den Bedarf im Bereich der Führungskräfteentwicklung zu analysieren. Welche Anforderungen stellen sich kirchlichen Führungskräften? Diese Anforderungsanalyse erfolgte in zwei Teilschritten. In einem ersten Teilschritt wurden Interviews mit ausgewählten Führungspersönlichkeiten der obersten Führungsebene geführt. In einem zweiten Teilschritt kam es zu drei Kooperationsprojekten, in denen kirchliches Führungshandeln konkret beobachtet werden konnte.
In einem zweiten Schritt des Austauschs in der wissenschaftlichen Reflexion wurde Resonanz mit den relevanten wissenschaftlichen Diskursen erzeugt. Der Austausch fand im kontinuierlichen und systematischen Gespräch mit drei Forschergruppen statt: Der pastoraltheologisch-sozialwissenschaftliche Diskurs wurde über das Forscherteam des zap, der theologische Diskurs über den an der Katholisch-Theologischen Fakultät der RUB angesiedelten Theologischen Gesprächskreis und der Führungsdiskurs durch das mit Experten aus theologischer und ökonomischer Wissenschaft, kirchlicher und säkularer Führungspraxis sowie kirchlicher und säkularer Beratung besetzte Sounding Board eingespielt.
Im dritten und letzten Schritt Wissenschaftstransfer oder Produzieren wurden zwei „Produkte“ entwickelt. Das erste Ergebnis ist ein Rahmenkonzept für Qualifizierungsprogramme, das als Grundlage und Orientierungsrahmen für die Entwicklung von Qualifizierungsprogrammen dienen soll. Das zweite Ergebnis ist ein konkreter Vorschlag zum Aufbau einer Organisation, in der zum einen die kontinuierliche wissenschaftliche Überprüfung und Verfeinerung des Qualifizierungskonzepts und zum anderen die Entwicklung von zielgruppenspezifischen und bedarfsgerechten Qualifizierungsprogrammen sichergestellt wird.
In einer Umfeldanalyse wurden zunächst die bereits bestehenden Angebote zur Qualifizierung leitender Pfarrer evaluiert. Im Anschluss wurden weitere Führungskräfteentwicklungsprogramme kirchlicher, aber auch säkularer Provenienz untersucht und ausgewertet. In einer Anforderungsanalyse konnten zwölf vertrauliche Gespräche mit kirchlichen Führungspersönlichkeiten der obersten Führungsebene geführt werden (2 Bischöfe, 2 Weihbischöfe, 2 Generalvikare, 3 Geschäftsführungen [Krankenhausträgergesellschaft, Caritasverband, ein weiterer Verband], 2 Hauptabteilungsleitungen und 1 Akademieleitung). Darüber hinaus gab es drei Kooperationsprojekte mit diözesanen Partnern zu den Themen „Durch Feedback lernen“ (Bistum Essen), „Organisationen durch Zielsteuerung entwickeln“ (Bistum Aachen) und „Führungskräfteentwicklung evaluieren“ (Erzbistum Hamburg).
Diese Sondierungen zeigten, „dass die aktuellen kirchlichen Angebote nicht das Niveau der säkularen Anbieter erreichen. Im kirchlichen Bereich fehlt eine wissenschaftliche Erforschung und Reflexion von Führungspraxis, so dass eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Ausbildungs- und Entwicklungsprogrammen nicht möglich ist bzw. relativ zufällig ist und von den jeweils handelnden Akteuren auf der Organisationsseite (Auswahl und Entscheidung) und auf der Anbieterseite (Berater, Trainer, Dozenten) abhängt. […] Der Kompetenzvermittlung im kirchlichen Bereich fehlt die Breite der säkularen Angebote; insbesondere ist eine Fixierung auf interaktiv-kommunikative Aspekte zu konstatieren.“ Es wurde deutlich, „dass der Dialog mit relevanten Vertreterinnen und Vertretern anderer gesellschaftlicher Teilsysteme eine herausragende Rolle bei [säkularer] Führungskräfteentwicklung spielt – ein Aspekt, der in den kirchlichen Qualifizierungsangeboten nicht berücksichtigt wird.“ (Jürgens, Benedikt 2017. Führungskompetenz für den deutschsprachigen Katholizismus. Projektbericht der Arbeitsstelle für kirchliche Führungsforschung (zap-Workingpaper Nr. 8), S. 27).
Aus diesem Grund entschied sich das zap dazu, einen Vorschlag für ein übergreifendes Qualifizierungsprogramm zu unterbreiten. Dazu wurden die empirischen Feldstudien auf mehreren Ebenen theoretisch reflektiert: Auf der pastoraltheologisch-sozialwissenschaftlichen Ebene in der Forschergemeinschaft des zap, auf der theologischen Ebene im Gesprächskreis „Führen und Entscheiden“ der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität (bisher 11 Fachgespräche und ein öffentlicher Expertenworkshop) und auf der Ebene des interdisziplinären Führungsdiskurses in einer Sounding-Group mit Experten aus theologischer und ökonomischer Wissenschaft, kirchlicher und säkularer Führungspraxis sowie kirchlicher und säkularer Beratung.
Auf dieser Grundlage wurde dann ein Qualifizierungsprogramm entwickelt, das sich an einem Kompetenzmodellorientiert und dem ein ausformuliertes Curriculum zugrunde liegt. Dieses Programm besteht aus vier thematisch orientierten Modulen, die an zu den Themen passenden Orten stattfinden:
In unserem Forschungsprojekt untersuchten wir daher mit Hilfe zweier empirischer Fallstu-dien konkrete, implizite und thematische Netzwerke professioneller Akteur*innen zum Thema „Arbeit mit kranken Menschen“ im Sauerland und „Lebenskönnerschaft“ im nördlichen Ruhr-gebiet.
Die Ergebnisse der Studien wurden wiederum mit den Vertreter*innen vor
Ort diskutiert. Mit den kirchlichen Mitarbeiter*innen der dortigen Pfarreien wurden daraufhin verschiedene Formate und Ideen getestet, um die Vertreter*innen unterschiedlicher Organi-sationen zu bestimmten Themen zu aktivieren, zu koordinieren und Interessen auszuhandeln. Gleichzeitig wurde ausprobiert, wie innerhalb dieses Netzwerkes Pluralität, Dezentralität, Mo-bilität und Flexibilität und darüber hinaus Innovation und Kreativität hergestellt und erhalten werden können.
Die wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnisse wurden reflektiert und publiziert. Dar-über hinaus entwickelten wir Tools zum Erlernen und Anwenden sozialräumlicher Netzwerk-kompetenzen.
Die vier inhaltlichen Module sind durch eine Einführungs- und Abschlussveranstaltung gerahmt. Das Programm sieht vor, dass in allen Modulen methodisch mit fünf Bausteinen gearbeitet wird.
Das Qualifizierungsprogramm fand nicht die Resonanz, die für eine gruppendynamisch und wirtschaftlich sinnvolle Durchführung notwendig gewesen wäre. Aus den Rückmeldungen zum Qualifizierungsprogramm hat das zap gelernt, dass es Schwierigkeiten gab, präzise die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu benennen, die das Potenzial für übergreifende Führungsaufgaben haben. Ein Grund dafür könnte sein, dass es bisher nur Ansätze einer systematischen Personalentwicklung in kirchlichen Organisationen gibt. Eine Führungskräfteentwicklung ist kaum zu erkennen. Zudem wurde deutlich, dass organisationsübergreifende Angebote im deutschsprachigen Katholizismus nur dann eine Akzeptanz finden, wenn sie von einer breiten Mehrheit getragen und bottom-up und partizipativ entwickelt werden. Dazu wäre ein aufwändiger Prozess nötig gewesen, der deutlich länger als zwei Jahre gedauert hätte und dessen Ausgang mehr als ungewiss gewesen wäre. Auf überdiözesaner Ebene im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz ist eine Willensbildung zum Thema Führungskräfteentwicklung zur Zeit eher unwahrscheinlich. Eine realistische Möglichkeit für eine nachhaltige und systematische Qualitätsverbesserung von Führung gibt es realistischerweise momentan wohl nur dezentral mit einzelnen kirchlichen Organisationen.
Diesen dezentralen Ansatz verfolgt das zap seit Anfang 2018. Dabei kann auf die umfangreiche Projekterfahrung des zap im Allgemeinen und auf die Erfahrung aus der Arbeit am Qualifizierungsprogramm im Besonderen angeknüpft werden, wodurch neue Erkenntnisse aus kirchlicher Führungspraxis gewonnen werden können. Vor diesem Hintergrund konnten drei neue Projekte akquiriert werden (Bistum Essen: Dimensionen der Kirchenbindung; Bistum Essen: Evaluation der Voten zum Pfarreientwicklungsprozess (PEP) des Bistums Essen; Erzbistum Köln: Evaluation des Projekts zur Förderung von Engagement und Mitverantwortung in den Kirchengemeinden im Erzbistum Köln). Darüber hinaus wurden die beiden Projekte mit der Diözese Rottenburg-Stuttgart (Partizipative Leitung) und dem Erzbistum Paderborn (Denken in Netzwerkdynamiken als Steuerungsmodell großer pastoraler Räume) in das Forschungsprogramm des Kompetenzzentrums integriert.
Was kann aus den praktischen Erfahrungen mit dem Qualifizierungsprogramm und den Kooperationsprojekten gelernt werden? Zunächst eine grundsätzliche Einsicht: Die fehlende Resonanz auf das Qualifizierungsprogramm bedeutet nicht, dass das Führungsthema kirchlicherseits nicht für relevant gehalten und bearbeitet wird. Im Gegenteil: In allen vier beschriebenen Kooperationsprojekten geht es (auch) um Führung, möglicherweise ist es sogar das im Hintergrund stehende maßgebliche Thema. Es kann gezeigt werden, dass die vier Projekte als Fallbeispiele für das im Kontext des Qualifizierungsprogramms entwickelte Kompetenzmodell dienen können, mit denen die bisher vorliegenden Kompetenzbeschreibungen weiterentwickelt und verfeinert werden können:
In diesen komplexen Prozessen lernt Kirche sehr viel – auch und gerade für das Thema Führung. Das ist sehr erfreulich: In den Kooperationsprojekten erleben sich sowohl das zap als auch die einzelnen kirchlichen Partner als lernende Organisationen. Dabei wird vor allem on the job gelernt: Man lernt, wie ein Leitbild entwickelt und umgesetzt wird, indem man es entwickelt und umsetzt. Man lernt die Kooperation mit gesellschaftlichen und kirchlichen Partnern, indem man mit ihnen zusammenarbeitet. Man lernt, wie man Kirchentwicklungsprozesse aufsetzt, indem man Kirchenentwicklung betreibt. Die Lernerlebnisse bei dieser Art zu lernen sind besonders intensiv und nachhaltig, weil sie mit Selbstwirksamkeitserfahrungen gekoppelt sind, die man nicht vergisst und die man später immer wieder aktivieren kann. Die Projektbeteiligten erfahren durch die Kooperation einen beachtlichen Kompetenzzuwachs.
An dieser Stelle könnte kirchliche Personalentwicklung bei der Aus- und Weiterbildung pastoraler Mitarbeiter anknüpfen. Wenn sich bestimmte Kompetenzen in der Praxis in mehreren Fällen als relevant erweisen, warum werden sie angehenden Priestern, Gemeinde- und Pastoralreferentinnen und -referenten nicht bereits während des Studiums und in der zweiten Ausbildungsphase vermittelt? Es wäre doch gut, wenn sie lernen würden, wie man Leitbilder entwickelt, wie man relevante Themen identifiziert und setzt oder wie man Prozesse aufsetzt und steuert. Es böte sich an, diese Lernerfahrungen zu sichern, sie systematisch auszuwerten, in didaktische Konzepte umzusetzen und sie in die kirchlichen Aus- und Weiterbildungsprogramme einzuspeisen. Das Erzbistum Paderborn setzt diese Einsicht bei der Vermittlung von Netzwerkkompetenzen um. Wünschenswert wäre, wenn auch weitere Führungskompetenzen systematisch in der Fort- und Weiterbildung vermittelt würden.